Literatūra ISSN 0258-0802 eISSN 1648-1143
2025, vol. 67(4). Online ahead of print DOI: https://doi.org/10.15388/Litera.2025.67.4.8
In memoriam
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Copyright © Christian Thienel, 2025. Published by Vilnius University Press
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Am 7. September 2024 verstarb mit 76 Jahren Prof. Dr. Jadvyga Bajarūnienė. Als Professorin für Literaturwissenschaft am Lehrstuhl für Deutsche Philologie der Universität Vilnius prägte sie Generationen von Studierenden in ihrer wissenschaftlichen Begegnung mit literarischen Texten deutscher Sprache. Dabei vermittelte Jadvyga den Studierenden Kraft ihrer Persönlichkeit und ihres immensen Wissens, das aus den Quellen eines der Literatur mit ganzem Einsatz hingegebenen Menschen schöpfte, nicht nur das weite Feld literaturwissenschaftlicher Kenntnisse. Sie weckte im Anderen das Gefühl dafür, dass es um nichts Geringeres geht, als um einen zutiefst lehrreichen, mal warnenden, mal humorvollen, mal tröstenden Blick des Menschen auf sich selbst sowie auf die sichtbaren und unsichtbaren Dinge unserer Welt, mittels der Literatur als einem unbestechlichen Spiegel. Mit Jadvyga Bajarūnienė verstarb ein besonderer Mensch, eine kluge, wache Zeitzeugin des akademischen Lebens in mehr als einem halben Jahrhundert und eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Literaturwissenschaft in Litauen.
Jadvyga stammte aus dem Bezirk Ukmergė, wo sie auch die Schule besuchte. 1965 schrieb sie sich zum Studium der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Vilnius ein. Nach dem Examen blieb sie ihrer Universität treu, die lebenslang ihre wissenschaftliche Heimat bleiben sollte. Im Rahmen eines Promotionsstudiums unterrichtete sie als Assistentin am Lehrstuhl für Deutsche Philologie und verfasste ihre Promotion zum Thema „Widerspiegelung der Entwicklungsprozesse auf dem Lande in der Prosa der DDR von 1949 bis zur Gegenwart. Ein literaturhistorischer Beitrag“, welche sie 1976 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald verteidigte. Jadvygas weitere Lehr- und Forschungstätigkeit als Dozentin, zunächst am Lehrstuhl für ausländische, insbesondere westliche Literatur, später am Lehrstuhl für Deutsche Philologie, umfasste ein breites Spektrum an literarischen Epochen. Der Schwerpunkt ihres wissenschaftlichen Interesses galt der Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Vor allem für die Literatur der vorletzten Jahrhundertwende als einer dynamischen, experimentellen, ja revolutionären geistes- und kulturgeschichtlichen Epoche hin zur Moderne war Jadvyga eine ausgewiesene Spezialistin, nicht zuletzt in Bezug auf die Literatur des Expressionismus. Jadvyga erstaunte mich immer wieder mit ihren unerschöpflichen Kenntnissen. Sich mit ihr über Literatur zu unterhalten, bedeutete, immer wieder neue literaturhistorische Bezüge und Verknüpfungen kennenzulernen, bis hinein in die feinsten Verästelungen der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Werke, ihrer intertextuellen und autobiografischen Bezüge, der Bekanntschaft und des Austausches auch unbekannterer Autoren und Autorinnen untereinander und deren Beeinflussung durch außerliterarische Strömungen und Persönlichkeiten der Geistes- und Kulturgeschichte. Jadvyga war immer eine Leserin und Forscherin auf der Suche nach neuen Entdeckungen, und eine Unterhaltung mit ihr verließ man nie ohne ein neues Goldkorn ihres Wissensschatzes. Überhaupt hat mich die schiere Menge an Texten, die Jadvyga gelesen haben muss, und aus denen sie feinsinnig und mit hintergründigem Humor zu zitieren wusste, oft erstaunt. Es soll hervorgehoben werden, dass Jadvyga auch eine hervorragende Kennerin der deutschen Gegenwartsliteratur war, diesseits und jenseits der früheren Berliner Mauer, bis hin zu den neuesten Veröffentlichungen. Ich erinnere mich an mache Unterhaltungen mit ihr in den Pausen im Lehrstuhl über literarische Neuerscheinungen der letzten Jahre, die sie oft schon kannte, bevor ich davon gehört hatte. Jadvyga war nicht nur eine Expertin der Literaturgeschichte, sie rezipierte stets auch die Entwicklungen des literaturtheoretischen Diskurses. Neben Diskussionen über die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik, die ich selbst während meines Studiums in Konstanz kennengelernt hatte, erinnere ich mich, um nur ein Beispiel zu nennen, an ein sehr interessantes Gespräch mit ihr über literarische Strukturen der Metapher des Raums. Am Ende meiner Tätigkeit erwog sie die gemeinsame Vorbereitung einer interdisziplinären Tagung aus Literaturwissenschaft, Theologie, Mediävistik und Psychologie zum Thema Schuld, die aber im Zuge meines Weggangs nicht mehr zustande kam. Jadvyga hat zahlreiche Artikel für verschiedenste Fachzeitschriften verfasst und mit ihrem Wirken und Schreiben in die litauische Öffentlichkeit hineingewirkt. Allein ihre Beiträge für die litauische Universal-Enzyklopädie (Visuotinė lietuvių enciklopedija) zählen 187 Artikel.
Im Mai 2014 erreichte mich über meine Kolleginnen und Kollegen des Lehrstuhls die Nachricht, dass Jadvyga in der Universität einen Schlaganfall erlitten hatte. Wie durch ein Wunder überstand sie diesen unheilvollen gesundheitlichen Einbruch nicht nur, sondern konnte sich zum Erstaunen der Ärzte langsam davon erholen und mithilfe der anschließenden Rehabilitationsbehandlung viele zunächst betroffene Funktionen wiedererlangen. Ihrem hellwachen Geist hatte die Erkrankung nichts anhaben können und auch nicht ihrem wunderbaren Deutsch. Jadvyga konnte ihre Tätigkeit an der Universität durch ihre gesundheitliche Beeinträchtigung nicht wieder aufnehmen. Man kann nur ahnen, wie schwer ihr diese Folge des Schicksalsschlages gefallen sein muss.
Einmal hat Jadvyga noch ihren früheren Lehrstuhl wiedergesehen. Dieser veranstaltete am 11./12. Oktober 2019 eine Tagung im Andenken an den langjährigen Dozenten und früheren Leiter des Lehrstuhls, Doz. Dr. Saulius Lapinskas (1954–2014). Jadvyga überraschte mich und den Lehrstuhl mit der Ankündigung, dass sie an dieser Tagung gerne teilnehmen wolle. Es war für alle ein berührendes Wiedersehen nach langer Zeit. Und Jadvyga freute sich, dass auch die Literaturwissenschaft am Lehrstuhl weiterlebt.
Im Rückblick, so scheint mir, hat Jadvygas Besuch dieser Tagung dazu beigetragen, dass auch sie selbst trotz der für sie beschwerlichen Umstände nochmals zu zwei Beiträgen zu ihrem Fach inspiriert wurde. Dem ging voran, dass Jadvyga sich zunächst nochmal intensiv in das Leben eines ihrer Lieblingsschriftsteller vertiefte: Franz Kafka. Sie bat mich, ihr aus Deutschland die Biografie über Kafkas Freundin Milena Jesenská (1997) mitzubringen, verfasst von der deutsch-tschechischen Autorin Alena Wagnerová. Einige Zeit später erzählte sie mir, dass das Kulturmagazin Krantai bei ihr wegen eines Beitrags über die Brüder Grimm angefragt habe. Unter dem Titel „Brüderliche Bande“ (Brolystės saitai)1 wurde ihr Artikel über Jacob und Wilhelm Grimm und deren Arbeiten, die sie, soweit ich weiß, ihr wissenschaftliches Leben lang immer wieder beschäftigt hatten, veröffentlicht. Während der Arbeit an diesem Text berichtete sie mir von ihrem Eindruck, wie sehr Günter Grass‘ Roman Die Blechtrommel (1959) ihr vom Grimm‘schen Märchen Der Trommler inspiriert erscheine. Schon früher hatte sie mir erzählt, wie sie Günter Grass einmal selbst begegnet war. Als junge Wissenschaftlerin hielt sie in Greifswald einen Vortrag über das Thema „Litauen in der deutschen Literatur“, als sie plötzlich sah, wie Günter Grass den Hörsaal betrat und ihren Vortrag anhörte! Ein Jahr nach Brolystės saitai setzte Jadvyga ihre erneute Beschäftigung mit den Werken der Brüder Grimm fort und veröffentlichte im gleichen Kulturmagazin einen Aufsatz über deren Sagensammlung, vor allem über die berühmte Sage „Der Rattenfänger von Hameln“ (auch: „Die Kinder zu Hameln“): Brolių Grimų sakmės. „Hamelno vaikai“2. Hier interpretiert Jadvyga die bedeutsamen und schauderhaften Geschehnisse des Verschwindens von Kindern als eine Spiegelung historischer Realitäten des Alltagslebens im Mittelalter.
Jadvyga beschrieb bereits 2011 in ihrem Beitrag „Der Einsatz literarischer Texte im Sprachunterricht: Zur germanistischen Lehre an der Universität Vilnius von den 1960er bis 1990er Jahren“3 fachdidaktische Perspektiven aus universitätsgeschichtlicher Sicht. Sie erzählte mir in der Zeit ihrer Erkrankung mehrmals davon, dass ihr vorschwebte, ihre Erinnerungen an ihr berufliches Leben, das der Erforschung und Lehre der deutschen Literatur gewidmet war, noch umfassender aufzuschreiben. Es klang, als gäbe es bereits Notizen hierzu. Doch diesen Wunsch hat Jadvyga nicht mehr verwirklichen können. Doch ihr Werk und ihre Persönlichkeit bleiben in unserer Erinnerung.
Christian Thienel
(ehemaliger DAAD-Lektor am Lehrstuhl für Deutsche Philologie der Universität Vilnius)